Rechtsbildung durch Rechtssprechung


Montesquieu: Richter ist nur Mund des Gesetzes Rechtssprechung sei ein deduktiver Vorgang – Gesetz enthielte Eindeutige Bestimmungen bzw. Anweisungen zur Falllösung und die richterliche Entscheidung bestünde allein darin, den Sachverhalt zu ermitteln und die feststehende gesetzliche Regel zu subsumieren und daraus entsprechende Folgerungen zu ziehen.

Rechtswirklichkeit: eine solche Ansicht nicht zutreffend weil Rechtsanwendung ist ein weit komplizierterer Vorgang dem Richter kommt sowohl eine rechtsanwendende als auch eine rechtsschöpfende konkretisiert und wirkt unmittelbar für diesen bestimmten Fall, kein gesetz ist im Stande, alle möglichen gegenwärtigen bzw. sich künftig ergebenden Fallvarianten erschöpfend zu regeln Aufgabe zu.

Wenn der Einzelfall Bedeuung für weitere, künftig zu entscheidende Rechtsfälle erlangt, führt sie zur Rechtsfortbildung richterliche Entscheidung wird so zum Präjudiz.

Bei ihrer Tätigkeit orientiert sich die Gerichtsbarkeit in der überwiegenden Zahl der Fälle an den sogenannten Präjudizien Entscheidungen, die zeitlich vorhergehend, bereits in gleichen bzw. ähnlichen Fällen getroffen wurden.

Beim Heranziehen solcher Präjudizien orientiert man sich an den sog. rationes decidendi leitenden Entscheidungsgründe.

Gründe für das Heranziehen von Präjudizien:

  • Gerechtigkeitsprinzipien: Gebot der Gleichbehandlung
  • Rechtssicherheit
  • Rechtskontinuität
  • Vorhersehbarkeit der Entscheidung
  • Entlastungsfunktion für den Richter muss in seiner Entscheidung nicht mehr alle Probleme in seiner Komplexität aufrollen, sondern kann sich auf bereits Entschiedenes und die dahinter stehenden Gründe berufen
    Anwendung des Kant’schen Kategorischen Imperatives: Richter muss wollen können, dass die Maxime seiner konkreten Entscheidung zur allgemeinen Maxime werde.

In Österreich besitzen Präjudizien keine dem Gesetz entsprechende normative Bindungswirkung.

Verbindlichkeit erlangen sie über die Entscheidungsgründe und deren argumentative Überzeugungskraft Sie besitzen Autorität.

Präjudizienvermutung: Der Entscheidende ist zwar an die vorliegenden Präjudizien nicht gebunden, aber er kann sich auch nicht beliebig über diese hinwegsetzen, denn man mutet ihnen Richtigkeit zu, solange die Unrichtigkeit eines Präjudizes nicht argumentativ erwiesen wird Umkehr der Begründungspflicht: Auferlegung einer „Argumentationslast“ für den Fall der Distanzierung vom Präjudiz.

Case Law

Im englischen Richterrecht wird die Rechtssprechung an Hand der Fallentscheidungen gebildet. Das Gesetz spielt nur eine untergeordnete ergänzende und korrigierende Rolle.

Das durch Fallentscheidungen gebildete Recht setzt sich aus Präzedenzfällen gerichtlich vorentschiedene Fälle, die für die Beurteilung künftiger Fälle als bindend angesehen werden zusammen.

Gleichgelagerte Fälle sollen gleich entschieden werden Grundsatz des „stare decisis“ “bei den Entscheidungen stehenbleiben“.

Es ist aber vorab festzustellen, welcher Teil der Entscheidungsbegründung der Vorentscheidung wesentlich und welcher Teil davon unwesentlich ist:

wesentlich: holding – umfasst die Regel und den Kern der juristischen Ableitung aufgrund derer der Fall entschieden wurde.

unwesentlich: dictum – in diesem Bereich werden zusätzliche Erwägungen angestellt, an die die Gerichte nicht gebunden sind.

distinguishing: Abrücken, von einer prinzipiell als richtig anerkannten Regel.
Die alte Entscheidung bleibt für die alten Fälle aufrecht, für den neuen Fall gibt es aber eine neue Entscheidung die rechtserheblichen Unterschiede zwischen den Fällen sollen aufgezeigt werden kommt zu einer Verfeinerung und damit zu einer Fortbildung des Rechts der Bereich des holdings wird verengt.

overruling: die Überwindung von Präjudizien durch neue Regelbildung.

Ist „radikaler“ – Richter kommt zu der Ansicht, dass das vorliegende Präjudiz sachlich unrichtig ist und es könne am Wege des distinguishings nicht mehr modifiziert werden

Vertrauensschutz – Overruling muss angekündigt werden Kant, Kat. Imperativ

Overruling ist gerechtfertigt wenn:

  • sich eine im Präjudiz enthaltene Entscheidungsregel als nicht praktikabel erweist
  • der Präzedenzfall angesichts der Ausprägung neuer Rechtsprinzipien als veraltet erscheint
  •  sich die Tatsachen so verändert haben, dass der Rechtfertigung der Regel mittlerweile die
    Grundlage entzogen wurde
  • gegenüber der Aufhebung nicht das Prinzip des Vertrauensschutzes überwiegt

Stärke der Bindungswirkung eines Präzedenzfalls hängt auch davon ab, ob sich die absolute Mehrheit der Mitglieder eines Richtersenats auf eine gemeinsame Entscheidungsbegründung einigen können oder ob die Richter mehrere miteinander konkurrierende Meinungen concurring opinions abgegeben haben, die zwar im Ergebnis konvergieren, aber eine jeweils andere juristische Ableitung enthalten.

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