Im österreichischen Rechtssystem spielt der Begriff „Präzedenzfall“ eine weniger zentrale Rolle als in Ländern mit einem angloamerikanischen Rechtssystem, wo das Common Law auf Präzedenzfällen basiert. In Österreich, das ein kodifiziertes Rechtssystem hat, gibt es kein formelles stare decisis, wie es im Common Law der Fall ist. Das bedeutet, dass Gerichtsurteile grundsätzlich keine rechtsverbindlichen Präzedenzfälle darstellen, die in zukünftigen Fällen zwingend angewendet werden müssen.
Allerdings können oberstgerichtliche Entscheidungen, insbesondere solche des Obersten Gerichtshofs (OGH), des Verfassungsgerichtshofs (VfGH) und des Verwaltungsgerichtshofs (VwGH), eine faktische Präzedenzwirkung entfalten. Diese Wirkung beruht auf der hohen Autorität und Fachkenntnis dieser Gerichte, weshalb ihre Judikatur oft als richtungsweisend oder überzeugend betrachtet wird. In der Praxis orientieren sich die unteren Gerichte häufig an den Entscheidungen der Höchstgerichte, um Rechtssicherheit und Einheitlichkeit der Rechtsprechung zu gewährleisten.
Im österreichischen Recht kommt der Lehre von der richterlichen Rechtsfortbildung eine wichtige Rolle zu. Richter dürfen Lücken im Gesetz durch Auslegung und Analogie im Sinne des § 7 ABGB schließen. Entscheidungen der Höchstgerichte dienen in diesem Kontext häufig als Orientierungshilfe, obwohl sie nicht rechtsverbindlich sind. Dies betrifft besonders Bereiche, in denen Gesetzeslücken bestehen oder wo die Gesetzeslage unklar ist.
Ein weiteres Element, das die faktische Bedeutung von Präzedenzfällen in Österreich unterstreicht, ist die Möglichkeit der außerordentlichen Revision zum OGH gemäß § 502 ZPO. Diese ist dann zulässig, wenn von einer höchstgerichtlichen Judikatur abgewichen werden soll oder wo solche Judikatur fehlt und damit eine erhebliche Rechtsfrage vorliegt.
Zusammenfassend kann man sagen, dass Präzedenzfälle im österreichischen Recht eine bedeutende, wenn auch nicht rechtlich verbindliche Rolle spielen. Sie entfalten vor allem durch die Überzeugungskraft und die Autorität der höheren Gerichte eine praktische Relevanz bei der Rechtsanwendung und -fortbildung.