Für diejenigen, die gerade ihr Jus-Studium beginnen: Willkommen in der Welt der Unsicherheit.
Von Kindheit an wurde uns allen beigebracht, dass es Regeln gibt – absolute Wahrheiten wenn man so will, die unser Verständnis der von uns studierten Fächer leiten. Wir haben uns Daten, Namen und andere wichtige Fakten für den Geschichtsunterricht gemerkt: Der österreichische Nationalfeiertag ist der 26. Oktober. Karl Renner war der erste Präsident der zweiten Republik Österreichs. Im Matheunterricht haben wir gelernt, dass 8 + 2 = 10 und 8 x 2 = 16 ist. Wenn man die Regeln auswendig lernte und sie bei den Hausaufgaben und Prüfungen anwandte, war alles in Ordnung.
Oberflächlich betrachtet sollte das Jus-Studium genauso funktionieren: Lerne das Gesetz auswendig und wende es in den Prüfungen an. Schließlich sind Gesetze ja auch Regeln. Warum sollte man das Studium und die anwaltliche Berufspraxis nicht auf die gleiche Weise angehen können wie das Einmaleins in der Volksschule oder das Periodensystem der Elemente im Chemieunterricht?
Obwohl im Jus-Studium viele auswendig gelernt werden muss (juristische Texte, Elemente von Rechtsansprüchen, Definitionen von Rechtsbegriffen usw.), hört das Lernen damit nicht auf. Vielmehr sind die Regeln nur der Ausgangspunkt für die Beantwortung von Fragen in der juristischen Ausbildung. Man lernt, dass die Regeln, die auswendig gelernt werden, unter bestimmten Umständen gelten – es sei denn, sie gelten nicht. Das Ergebnis: Wenn man sich in das Studium vertieft, wird man feststellen, dass eine der häufigsten Redewendungen im Jus-Studium “es kommt darauf an” lautet (alternativ auch “da muss man Differenzieren” und “da ist eine Einzelfallanalyse notwendig”).
Im Strafrecht-Seminar wird zum Beispiel bald etwas über den Tatbestand der Körperverletzung gelernt. § 83 StGB definiert den Tatbestand der Körperverletzung wie folgt:
(1) Wer einen anderen am Körper verletzt oder an der Gesundheit schädigt, ist mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr (…) zu bestrafen. (…)
Diese Definition scheint ziemlich einfach zu sein. Neulinge könnten davon ausgehen, dass die Frage leicht beantwortbar ist, wenn sie diese Definition in Prüfungen anwenden: Hat der Angeklagte den Tatbestand der Körperverletzung erfüllt? In Wirklichkeit ist die Antwort nicht so einfach, wie sie scheint. Ein erfahrener Jurist bzw. eine erfahrene Juristin weiß aus Erfahrung, dass die richtige Antwort lautet: “Es kommt darauf an”.
Bestimmte Fakten in der hypothetischen Situation wirken sich auf die Analyse aus. Was wäre zum Beispiel, wenn der Angeklagte stattdessen einen Überfall (ein anderes Delikt) begehen wollte, aber eine Körperverletzung verursacht hat – ist er dann für eine Körperverletzung zu verurteilen, obwohl er diese Handlung nicht beabsichtigt hat? Was ist, wenn wir nicht wissen, was dessen Absicht war? Was ist, wenn der Angeklagte nur die Handtasche der Klägerin berührt hat, die an ihrem Arm hing, und nicht einen Teil ihres Körpers? Diese Details und Fakten können sich auf die Antwort auswirken.
Die Antwort kann auch davon abhängen, ob es andere rechtliche Vorschriften gibt, die sich mit den Vorschriften über Körperverletzung überschneiden. Man muss also lernen, dass des Angeklagten Handlungen möglicherweise keine unerlaubte Handlung darstellen, wenn er es im Zuge einer Notwehr geltend machen kann. Der Angeklagte könnte zum Beispiel argumentieren, dass er nicht für eine Körperverletzung haftbar ist, weil der Kläger in sein Handeln eingewilligt hat. Oder vielleicht ist der Angeklagte ein Polizeibeamter, der im Rahmen des Gesetzes handelt. Es gibt zahlreiche mögliche Einwände, die er geltend machen könnte, und diese Einwände verändern eine Analyse.
Das Fehlen absoluter Antworten in der Rechtswissenschaft ist einer der Gründe, warum Jus-Studenten ihr erstes Studienjahr oft als so stressig empfinden. Jedes Mal, wenn Sie das Gefühl haben, dass Sie eine Regel zu verstehen beginnen, führt Ihr Professor eine weitere mögliche Ausnahme von dieser Regel ein. Das Recht fühlt sich manchmal wie ein bewegliches Ziel an – und zu Beginn wird versucht, es zu treffen, während man eine Augenbinde trägt!
In Wirklichkeit ist das Meistern der “Es kommt darauf an“-Momente im Jus-Studium und der anwaltlichen Praxis einer der Schlüssel zum (akademischen) Erfolg. Die Ungewissheit bietet die Möglichkeit, sich eingehender mit dem Recht zu befassen. Wenn man sich mit den Unklarheiten auseinandersetzt, verbessert man das juristische Denkvermögen, was uns alle zu besseren Juristen und viele unter uns schließlich zu besseren Anwälten macht.