utachten zeigt rechtsstaatliche Defizite und erheblichen Reformbedarf auf; ÖRAK präsentiert Katalog an Reformvorschlägen und fordert rasche Umsetzung
Wien (OTS) – Im Rahmen einer Pressekonferenz zum Thema „Sicherstellung und Auswertung von Daten und Datenträgern – Defizite und Reformvorschläge“ präsentierte der Österreichische Rechtsanwaltskammertag (ÖRAK) am Montag einen Katalog an Reformvorschlägen, „um den Rechtsstaat im Bereich der Sicherstellung von Kommunikationsgeräten wie Handys, Laptops oder Tablets in das digitale Zeitalter zu führen“, wie ÖRAK-Präsident Dr. Armenak Utudjian eingangs festhielt. Die Forderungen der Rechtsanwaltschaft beruhen auf einem im Auftrag des Instituts für Anwaltsrecht der Universität Wien von Univ.-Prof. Dr. Ingeborg Zerbes und Mag. Shirin Ghazanfari (Institut für Strafrecht und Kriminologie, Universität Wien) ausgearbeiteten Gutachten, das sich detailliert der geltenden Rechtslage, rechtsstaatlichen Defiziten und Reformvorschlägen widmet und einen konkreten Gesetzesvorschlag beinhaltet.
Utudjian: „Es besteht dringender Handlungsbedarf, um Beschuldigtenrechte auf ein rechtsstaatlich vertretbares Niveau anzuheben“
„Sicherstellungen beziehen sich auf einzelne Gegenstände und können auch unabhängig von Hausdurchsuchungen vorgenommen werden. Für dieses Vorgehen existieren derzeit nur äußerst niederschwellige Voraussetzungen, denn die heute geltenden Sicherstellungsbefugnisse der Ermittlungsbehörden stammen noch aus einer Zeit vor „Big Data“, Smartphones und moderner Informationstechnologie“, erklärt ÖRAK-Vizepräsident Dr. Bernhard Fink. „Die Ermittlungsbehörde benötigt für die Sicherstellung weder eine richterliche Bewilligung, noch muss ein dringender Tatverdacht vorliegen“, so Fink.
„Eine Sicherstellung von Kommunikationsgeräten gibt letzten Endes dieselben und sogar mehr Daten preis als eine Kommunikationsüberwachung (durch eine sogenannte „Nachrichtenüberwachung“). Dennoch sind ihre Voraussetzungen ungleich geringer: Der nur mögliche Beweiswert der auf dem sichergestellten Datenträger vermuteten Daten und eine Anordnung der Staatsanwaltschaft genügen; es sind kein dringender Tatverdacht und keine Mindestschwere der Anlasstat erforderlich; Regelungen zum Umgang mit Zufallsfunden fehlen. Ferner fehlt in bestimmten Konstellationen die richterliche Kontrolle zum Schutz der beruflichen Verschwiegenheitsrechte wie des Redaktionsgeheimnisses oder der anwaltlichen Schweigepflicht. Vor allem aber werden der Beschuldigte und sein Verteidiger nach einer Sicherstellung nicht darüber informiert, welche Daten die Strafverfolgungsbehörde nun in der Hand hat. Anders als nach einer Überwachung fehlt damit das rechtliche Gehör“, erläutert Zerbes die Defizite der geltenden Rechtslage. „Es besteht dringender Handlungsbedarf seitens des Gesetzgebers, um die Beschuldigtenrechte auf ein rechtsstaatlich vertretbares Niveau anzuheben“, fasst ÖRAK-Präsident Armenak Utudjian den vorliegenden Befund zusammen.
Höhere Eingriffsschwellen bei Sicherstellung von Kommunikationsgeräten
Das Gutachten zielt nicht darauf ab, den Strafverfolgungsbehörden Daten, die sie als Beweismittel verwenden wollen, unzugänglich zu machen. Zerbes plädiert jedoch dafür, die Regeln zur Sicherstellung von Kommunikationsgeräten an jene rechtsstaatlichen Vorgaben anzupassen, die auch bei einer Kommunikationsüberwachung (Nachrichtenüberwachung) vorgesehen sind. Damit wäre vor allem verbunden, als Anlass den dringenden Verdacht auf eine mit mehr als einem Jahr Freiheitsstrafe bedrohte Straftat vorzusehen. Ausgeklammert werden sollte der (bislang strittige) Zugriff auf Datenbestände externer Speicherplätze wie zB auf Clouds; ein solcher Zugriff ist ohnedies durch Kommunikationsüberwachung möglich.
Beschränkung der Verwendbarkeit von Zufallsfunden, Transparenz für Beschuldigte
Ebenfalls nach dem Vorbild einer Kommunikationsüberwachung schlägt das Gutachten außerdem eine Beschränkung der Verwendbarkeit von Zufallsfunden auf strafbare Handlungen vor, die auch Anlass zu einer derartigen Sicherstellung hätten geben können.
Der Kern des Vorschlags bezieht sich sodann auf den enormen Überschuss an Daten, der bei der Sicherstellung eines Smartphones oder sonstigen Kommunikationsgeräts zugänglich wird. Kein Betroffener einer Sicherstellung hat mehr Überblick über die Daten – Kommunikationsverläufe und -inhalte, Bilder, Videos, Ortsaufzeichnungen, angeklickte Internetseiten etc -, die auf seinem Kommunikationsgerät sichtbar gespeichert oder rekonstruierbar sind. Der Prozess der Auslesung und Auswertung sollte daher so geregelt werden, dass er dem Betroffenen gegenüber transparent wird: Dieser sollte innerhalb bestimmter (gestaffelter) Fristen (im Fall verschlüsselter Daten bis zu 14 Wochen) bit-idente Kopien der Datenträger erhalten, an denen die Strafverfolgungsbehörden ihre Auswertung vornehmen. Denn nur dann hat der Betroffene die Möglichkeit zu beantragen, dass entweder weitere, von der Staatsanwaltschaft vorerst für irrelevant befundene Daten zum Akt genommen werden oder dass jene Daten, die aus seiner Sicht nicht mit dem Verdacht gegen ihn zusammenhängen, gelöscht werden. Über Zufallsfunde soll ein eigener Akt anzulegen sein.
Beschränkung der Akteneinsicht von Mitbeschuldigten und Anerkennung eines Widerspruchsrechts des Beschuldigten zum Schutz beruflicher Verschwiegenheitsrechte
Zum Schutz der Privatsphäre des Betroffenen wird vorgeschlagen, die bereits nach geltender Rechtslage mögliche Beschränkung der Akteneinsicht von Opfern, Privatbeteiligten und Privatanklägern auf Mitbeschuldigte auszudehnen, soweit deren Interessen nicht beeinträchtigt werden. Dies könne auch das Risiko einer medialen Verbreitung und damit eine – über das Informationsinteresse der Öffentlichkeit hinausgehende – Bloßstellung von Verdächtigen minimieren.
Außerdem sollte, so Zerbes, auch der Beschuldigte, bei dem etwa vom Anwaltsgeheimnis oder vom journalistischen Schweigerecht umfasste Unterlagen gefunden werden, durch einen darauf bezogenen Widerspruch gegen die Sicherstellung eine gerichtliche Entscheidung über deren Sichtung erreichen können.
ÖRAK fordert tiefgreifende Reform bei Sicherstellung und Auswertung von Daten und Datenträgern
„Es ist höchste Zeit, die aus der digitalen Steinzeit stammenden und inzwischen rechtsstaatlich bedenklichen Regelungen zur Sicherstellung von Datenträgern grundlegend zu reformieren“, erklärt Utudjian und fordert die Einleitung eines Reformprozesses auf Basis des vorliegenden Gutachtens, das grobe rechtsstaatliche Defizite der geltenden Rechtslage offenbare. „Wir appellieren an die Frau Bundesministerin für Justiz und den Gesetzgeber, rasch ein entsprechendes Gesetzesvorhaben auf den Weg zu bringen und damit ein ganz wesentliches rechtsstaatliches Problem zu beseitigen“, so Utudjian.
Der ÖRAK fordert, folgende Punkte dabei jedenfalls zu berücksichtigen:
- Anhebung der Voraussetzungen für die Sicherstellung von Kommunikationsgeräten durch Einführung besonderer Bestimmungen in Anlehnung an die bestehenden Regelungen zur Nachrichtenüberwachung
Anhebung der Schwelle der Anlasstaten auf mit über einem Jahr Freiheitsstrafe bedrohte Straftaten und Vorliegen eines dringenden Tatverdachts sowie Einführung einer begründeten gerichtlichen Bewilligung als Voraussetzung.
- Schaffung klarer Regelungen im Umgang mit Zufallsfunden
Beschränkung der Verwendbarkeit von Zufallsfunden auf strafbare Handlungen, die auch Anlass zu einer derartigen Sicherstellung hätten geben können.
- Transparenz gegenüber Beschuldigten im Zusammenhang mit Sicherstellungen
Beschuldigten müssen sämtliche sichergestellten Teile (Gesamtdatensatz) – bit-idente Kopie, Kopie der nachträglich wiederhergestellten Daten und der „konservierten“ flüchtigen Daten – auf einem (oder mehreren) Datenträgern zur Verfügung gestellt werden.
- Verkürzung der Dauer des Auswertungsprozesses durch Einführung verbindlicher Fristen
Der von der Sicherstellung eines Datenträgers betroffenen Person ist unverzüglich, längstens jedoch binnen 14 Tagen, eine Kopie der Gesamtdaten auszuhändigen. Nur unter besonderen Umständen soll eine Fristerstreckung auf insgesamt acht Wochen, im Fall verschlüsselter Daten auf maximal vierzehn Wochen möglich sein.
- Beschränkung der Akteneinsicht von Mitbeschuldigten – analog zur Rechtslage betreffend Opfer, Privatbeteiligte und Privatankläger – soweit deren Interessen nicht beeinträchtigt werden
- Anerkennung eines Widerspruchsrechts des Beschuldigten in Berufung auf ein Verschwiegenheitsrecht eines Berufsgeheimnisträgers
Zur Wahrung beruflicher Verschwiegenheitsrechte muss dem Beschuldigten (und externen Hilfskräften des Berufsgeheimnisträgers) ein darauf bezogenes Widerspruchsrecht gegen die Sicherstellung eingeräumt werden. Daraufhin ist der Datenträger zu versiegeln und bei Gericht zu hinterlegen. Aus praktischen Gründen soll zunächst dem Beschuldigten selbst eine Bezeichnungsobliegenheit und damit die Pflicht zur Aussortierung des der Verschwiegenheit unterliegenden Materials auferlegt werden. Im Anschluss soll der Berufsgeheimnisträger das vorsortierte Material sichten können. Danach entscheidet das Gericht nach einer Sichtung, welche der aussortierten Daten dem Berufsgeheimnis unterliegen. Darüber hinaus soll dem Beschuldigten das Recht eingeräumt werden, einer Sicherstellung zu widersprechen, unabhängig davon, wo sich die der Verschwiegenheit unterliegenden Informationen befinden. Ziel der Regelung: Informationen, die einem Berufsgeheimnis unterliegen, dürfen nicht an die Ermittlungsbehörden gelangen.
Sowohl Utudjian und Fink als auch Zerbes betonen, dass es sich bei den im Rahmen der Pressekonferenz vorgestellten Analysen und Forderungen um keine Stellungnahme oder Wertung zu oder von innenpolitischen Geschehnissen gleich welcher Art handle. Zerbes befasst sich bereits seit 2014 mit dem Thema. Das Gutachten wurde in unbeeinträchtigter Unabhängigkeit verfasst. „Sowohl das Gutachten als auch die daraus abgeleiteten Lösungsvorschläge beziehen sich auf eine in der Praxis längst identifizierte Schieflage zulasten der Verteidigung. Nun ist es erstmals gelungen, aus dieser vielschichtigen und komplexen Thematik konkrete Reformvorschläge abzuleiten“, so ÖRAK-Präsident Dr. Utudjian abschließend.
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