Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (häufige Abkürzungen: GRC bzw. GRCh) kodifiziert Grund- und Menschenrechte im Rahmen der Europäischen Union. Mit der Charta sind die EU-Grundrechte erstmals umfassend schriftlich und in einer verständlichen Form niedergelegt. Sie orientiert sich an der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Europäischen Sozialcharta, den mitgliedstaatlichen Verfassungen und internationalen Menschenrechtsdokumenten, aber auch an der Rechtsprechung der europäischen Gerichtshöfe.
Ziele, Inhalt und Bindungswirkung der Charta
Die Charta enthält die auf Ebene der Union geltenden bzw. unionalen Grundrechte, die bisher nur durch einen allgemeinen Verweis auf die Europäische Menschenrechtskonvention und auf die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union im Vertrag genannt wurden (Artikel 6 Abs. 3 des EU-Vertrags). Mit ihrer „Sichtbarmachung“ in der Charta sollen die Grundrechte für den Einzelnen transparenter werden. Zugleich sollen Identität und Legitimität der Europäischen Union – als Wertegemeinschaft – gestärkt werden.
In sechs Titeln (Würde des Menschen, Freiheit, Gleichheit, Solidarität, Bürgerrechte und justizielle Rechte) fasst die Charta die allgemeinen Menschen- und Bürgerrechte und die wirtschaftlichen und sozialen Rechte in einem Dokument zusammen. Die Charta enthält einige wesentliche Grundsätze, an die sich vor allem der europäische Gesetzgeber zu halten hat.
Ein weiterer, abschließender Titel (Titel VII) regelt die so genannten horizontalen Fragen. Dieser Titel enthält diejenigen Regeln, die querschnittsartig für sämtliche Grundrechte gelten (Adressaten der Grundrechte, Grundrechtsschranken, Verhältnis zu anderen Grundrechtsgewährleistungen, insbesondere zur Europäischen Menschenrechtskonvention, Missbrauchsverbot).
Einige Abschnitte der Charta sind nicht eindeutig formuliert; so ist z. B. in Artikel 6 das Recht jeder Person „auf Freiheit und Sicherheit“ festgeschrieben, wobei unbestimmt bleibt, wie etwa individuelle Freiheit gegenüber kollektiver Sicherheit zu gewichten ist. Zur sachgerechten Auslegung der Charta ist daher die Kenntnis der Diskussionen im Grundrechtekonvent unerlässlich.
In 50 Artikeln werden umfassende Rechte anerkannt, für deren Durchsetzung nicht nur der Europäische Gerichtshof in Luxemburg, sondern vorab sämtliche nationalen Richter – gewissermaßen als Unionsrichter – zuständig sind. In Artikel 1 der Charta heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Doch geht die Charta bei der Gewährung von Abwehr- und Schutzrechten teilweise weit über das deutsche Grundgesetz hinaus; sie sichert neben den klassischen Bürgerrechten wie Rede-, Meinungs- oder Versammlungsfreiheit auch den Verbraucherschutz, den Datenschutz, ein „Recht auf eine gute Verwaltung“ und weitgehende Rechte von Kindern, von Menschen mit Behinderung und von älteren Menschen. Insbesondere wurden zahlreiche soziale Rechte in die Charta aufgenommen, während das deutsche Grundgesetz hierzu schweigt. So sind unter anderem „würdige Arbeitsbedingungen“ und eine kostenlose Arbeitsvermittlung garantiert. Zudem ist die Charta von der Antidiskriminierung durchdrungen. In Artikel 21 sind mehr unzulässige Gründe für Diskriminierung aufgelistet als in Art. 19 AEU-Vertrag (ehemals Art. 13 EG-Vertrag), welcher bisher Grundlage der nationalen Antidiskriminierungsgesetze war. Wörtlich heißt es: „Diskriminierungen insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung, sind verboten.“
Einige fundamentale Rechte gelten absolut und einschränkungslos, so die Menschenwürde in Art. 1, das Folterverbot in Art. 4 oder das Sklavereiverbot in Art. 5. In diese Rechte dürfen Union und Mitgliedstaaten nicht eingreifen, und jede Relativierung – etwa beim Folterverbot – verbietet sich. Die anderen, nicht absoluten Rechte können hingegen eingeschränkt werden, wobei kein Grundrecht „leerlaufen“ darf. Zwar enthalten die einzelnen Grundrechte der Charta bis auf wenige Ausnahmen keine spezifischen Schranken. Eine allgemeine Schrankenklausel findet sich jedoch in Art. 52 Abs. 1, wonach jede Einschränkung gesetzlich vorgesehen sein und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sowie den Wesensgehalt der Rechte achten muss. Soweit Chartarechte der Europäischen Menschenrechtskonvention entstammen, gelten die dort aufgeführten spezifischen Schrankenbestimmungen, und soweit Rechte dem europäischen Vertragswerk entnommen wurden, wie vor allem die Bürgerrechte, die darin bereits enthaltenen Schrankenklauseln.
In der Praxis ist vor allem die Frage wichtig, für wen die Charta gilt bzw. in welchen Situationen der Bürger sich auf die Chartarechte berufen kann. Diese Frage klärt Art. 51. Danach bindet die Grundrechtecharta zum einen sämtliche Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union. Das gesamte Handeln der Union muss sich mithin am Maßstab der Charta messen lassen, insbesondere die europäische Gesetzgebung (per Verordnungen und Richtlinien) und die europäische Verwaltung.
Zum anderen bindet die Charta aber auch die Mitgliedstaaten, soweit diese Unionsrecht durchführen, indem sie etwa europäische Richtlinien in nationales Recht umsetzen oder – durch ihre nationalen Verwaltungen – europäische Verordnungen ausführen.
Keine Anwendung findet die Charta somit auf rein nationale Sachverhalte. Hier sind weiterhin die mitgliedstaatlichen Grundrechte alleiniger Prüfungsmaßstab. Die meisten Anfragen bei der Europäischen Kommission betreffen derartige Sachverhalte, für die weder Kommission noch Europäischer Gerichtshof zuständig sind. Als grobe Faustregel kann gelten, dass die Charta nur dann anwendbar ist, wenn es einen europäischen Bezug gibt.
Aktuelle Auswirkungen
Der Europäische Gerichtshof hob durch das Urteil in den verbundenen Sachen C-293/12 und C-594/12 am 8. April 2014 auf Vorlagen Irlands und Österreichs die Richtlinie 2006/24/EG über die Vorratsdatenspeicherung wegen Verstößen gegen die Charta auf; sie verstieß beim Eingriff in die Grundrechte Recht auf Schutz personenbezogener Daten (Art. 8) und Recht auf Achtung des Privatlebens (Art. 7 ) gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip (Art. 52).
In einer Entscheidung vom 14. März 2012 erklärte der österreichische Verfassungsgerichtshof, dass die Grundrechtecharta für Österreich zu jenen Normen gehöre, die von ihm als Maßstab für die Verfassungskonformität österreichischen Rechts herangezogen würden, entgegenstehende generelle Normen würden aufgehoben. Das wurde als Grundsatzentscheidung und „Meilenstein in der Entwicklung der Grundrechte-Judikatur“ interpretiert.
Quellen
- Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 8. April 2014. In den verbundenen Rechtssachen C‑293/12 und C‑594/12 (InfoCuria, Datenbank des Gerichtshofs).
- Reinhard Priebe: „Reform der Vorratsdatenspeicherung – strenge Maßstäbe des EuGH“. In: EuZW 2014, S. 456–459.
- Verfassungsrichter heben EU-Grundrechte in den Verfassungsrang, Wiener Zeitung 4. Mai 2012, abgerufen 6. Mai 2012.
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