Das Gewohnheitsrecht ist ungeschriebenes Recht, das nicht durch Gesetzgebung zustande kommt, sondern durch eine lange andauernde Anwendung von Rechtsvorstellungen oder Regeln, die von den Beteiligten im Rechtsverkehr als verbindlich akzeptiert werden. Das Gewohnheitsrecht wird von der höchstrichterlichen Rechtsprechung und im Schrifttum als gleichberechtigt mit Gesetzen anerkannt.
Die Hauptanwendungsfelder finden sich im Zusammenhang mit zivil- und handelsrechtlichen Gesetzen, der Verkehrssitte und Handelsbräuchen sowie sonst nicht explizit in Gesetzestexten geregelten Materien, wie das deutsche Wappenrecht und das Jedermannsrecht. Auch im Völkerrecht spielt das Gewohnheitsrecht eine wichtige Rolle.
Gewohnheitsrecht, das im Anwenderkreis begrenzt ist – beispielsweise Gewohnheitsrecht aufgrund einer Vereinsübung –, wird als Observanz bezeichnet.
Das Gewohnheitsrecht in der allgemeinen Rechtsquellenlehre
Begriff
Nach der Definition des Bundesverfassungsgerichts entsteht Gewohnheitsrecht nicht durch ein förmliches Rechtssetzungsverfahren, sondern durch eine längere tatsächliche Übung, die eine dauernde und ständige, gleichmäßige und allgemeine sein muss (longa consuetudo), und von den beteiligten Rechtsgenossen als rechtsverbindlich anerkannt ist (opinio iuris).
Der Bundesgerichtshof erblickt im Gewohnheitsrecht eine lang dauernde Übung, die durch die Rechtsüberzeugung beziehungsweise den Rechtsgestaltungswillen der betroffenen Verkehrskreise getragen wird.
Ähnlich sind die Formulierungen des juristischen Schrifttums. Gewohnheitsrecht entstehe aus einer längeren, gleichmäßigen Übung und Überzeugung der an den Prozessen Beteiligten, die davon ausgehen, dass diese Übung nicht beliebig oder unverbindlich sei, sondern rechtsverbindlich geboten (opinio necessitatis), mithin als Rechtsgeltungswille einer Gemeinschaft oder derer Organe, manifestiert.
Gewohnheitsrecht leitet sich also nicht vom geschriebenen Recht ab, sondern fußt auf Verbindlichkeit schaffender Rechtstradition. Fehlt die opinio iuris, handelt es sich um eine bloße Gewohnheit, die allein kein Recht schaffen kann. Rechtmäßig gebildetes Gewohnheitsrecht steht dabei dem geschriebenen Recht grundsätzlich gleich, es sei denn, die Rechtsordnung verlangt ausdrücklich nach einer geschriebenen Regelung.
Gewohnheitsrecht ist Teil der Gesamtrechtsordnung, die sich in naturrechtliche Komponenten, das Gewohnheitsrecht und vornehmlich geschriebenes Recht unterteilt. Definitorisch wird geschriebenes Recht, aufgrund eines Niederlegungsaktes (gesetztes Recht) auch als positives Recht bezeichnet, denn es wird von staatlichen Organen, regelmäßig der Legislative, zum Teil von der Exekutive, in determinierten Normsetzungsverfahren erlassen. Gleichwohl wird Gewohnheitsrecht in Fachkreisen häufig ebenfalls als positives Recht diskutiert, teilt dann aber mit dem Naturrecht die Idee eines vor- und außerstaatlichen Rechts. Impliziert ist zugleich die Vorstellung der Verfassungsväter, Gewohnheitsrecht sei als „historisches Phänomen“ anzuerkennen, weshalb kein Handlungsbedarf bestünde über es mit staatlicher Autorität befinden zu wollen.
Verhältnis zum Gesetzesrecht
Gewohnheitsrecht ist in vielen Rechtsordnungen als eigenständige Rechtsquelle neben dem formellen Gesetz anerkannt, entfaltet also gleiche Bindungswirkung. Die Aufbauarbeit zu einer derartigen Interpretation hatte die pandektistisch orientierte Historische Rechtsschule geleistet. Die geforderte Bindungswirkung hat sogar die Konsequenz, dass sich Gewohnheitsrecht nicht nur praeter legem, sondern auch contra legem entwickeln könne und zu berücksichtigen sei. Secundum legem begegnet Gewohnheitsrecht in verfestigter Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe als Usualinterpretation (Auslegung einer Gesetzesvorschrift durch ein Gewohnheitsrecht). Durch die Gleichrangigkeit von formellem Gesetzesrecht und Gewohnheitsrecht, lässt sich außerdem die Regel Lex posterior derogat legi priori anwenden.
Verhältnis zum Richterrecht
Das Gewohnheitsrecht verdient nach herrschender Auffassung auch eine Unterscheidung zum so genannten Richterrecht, welches eine Kreation der neueren Methoden- und Rechtsquellenlehre ist. Im 19. Jahrhundert nannten die Pandektisten das Recht noch Gerichtsgebrauch. Der Gerichtsgebrauch bezeichnete nicht zwingend verstetigte Rechtsprechung, häufig wurde er sogar nur in den inneren Zirkeln eines Gerichts verwendet, er trug gleichwohl Züge einer gewissen Kontinuität. Der Richterrechtsbegriff betrachtet hingegen heute weniger die Merkmale der Konstanz einer Rechtsprechung, vielmehr steht er für besondere rechtspraktische Abweichungen zum Gesetzesrecht, also zu bereits geltendem Recht. Der Richter denkt in seinem Urteil über die positivrechtliche Bestimmung hinaus, weil er aus einem wertenden Blickwinkel heraus Gebote bildet. Neues Recht im eigentlichen Sinne wird dabei nicht geschaffen.
Neuerdings wird vereinzelt ein fließender Übergang von rechtsfortbildenden Einzelfallentscheidungen (Richterrecht) über die ständige Rechtsprechung oberster Gerichte, die eine Rechtsauffassung dauerhaft vertreten, hin zum Gewohnheitsrecht angenommen. Diese Überlegung geht davon aus, dass Präjudizien, also richtungweisende Vorentscheidungen der obersten Gerichte mit der Zeit allgemein bindend werden. Eine klare Unterscheidung zwischen Richterrecht und Gewohnheitsrecht bleibt dennoch bestehen: Während beim Richterrecht die Rechtsprechung befugt bleibt, richterliche Entscheidungen und Weiterentwicklungen aufgrund besserer Einsicht jederzeit zu ändern, kann über das Gewohnheitsrecht, das mit dem geschriebenen Recht gleichberechtigt ist, nur der Gesetzgeber (die Legislative) verfügen. Demnach handelt es sich auch bei der ständigen Rechtsprechung der obersten Gerichte nicht um die Bildung von Gewohnheitsrecht. Für die Gewohnheitsrechtsproblematik ist das Richterrecht allerdings überhaupt erst von Relevanz, wenn im streitgegenständlichen Urteil nicht lediglich einzelfallbezogene Gebote ausgesprochen werden, sondern Normen aufgestellt werden, die über den zu entscheidenden Einzelfall hinaus Normcharakter mit dem Anspruch der Allgemeingültigkeit beanspruchen. Gesteigertes rechtsquellentheoretisches Interesse löst der Allgemeingültigkeitsanspruch, ob ausdrücklich oder konkludent formuliert wird sei dahingestellt, wenn er demjenigen des Gesetzes vergleichbar wird.
Aus mehr rechtssoziologischer Sicht wird gegen eine Unterscheidung von Gewohnheits- und Richterrecht argumentiert, dass es die Richter sind, die über die Geltung von Gewohnheitsrecht entscheiden und Gewohnheitsrecht daher letztlich „Juristenrecht“ (Max Weber) sei.
Gewohnheitsrecht in Österreich
In Österreich ist Voraussetzung für die Entstehung von Gewohnheitsrecht eine langdauernde, allgemeine und gleichmäßige Übung (= Anwendung) bestimmter Regeln. Die Übung muss außerdem von der Überzeugung getragen sein, dass die angewandten Regeln Recht sind (opinio iuris).
In diesem Sinne sind im österreichischen Recht eine Reihe von Normen nachweisbar, etwa im Anerbenrecht die Anwendung des Grundsatzes, dass der Übernehmer eines Bauernhofes nach der Übernahme „wohl bestehen“ können muss; das Recht über fremde Wiesen und Felder zu spazieren (ist nur für Wälder im Forstgesetz gesetzlich normiert), Pilze zu sammeln und Blumen zu pflücken.
§ 10 ABGB legt fest, dass auf Gewohnheiten nur in den Fällen Rücksicht genommen werden darf, in welchen sich ein Gesetz darauf beruft. Die Bestimmung ist z. B. auf Verkehrsgewohnheiten (§ 914 ABGB verweist auf die „Übung des redlichen Verkehrs“ für die ergänzende Vertragsauslegung) oder die Handelsbräuche (§ 346 UGB: „Unter Unternehmern ist … auf die im Geschäftsverkehr geltenden Gewohnheiten und Gebräuche Rücksicht zu nehmen.“)
Von einer Mindermeinung in der österreichischen Jurisprudenz (v. a. den Vertretern der „Reinen Rechtslehre“ Kelsens) wird bestritten, dass es in Österreich überhaupt Gewohnheitsrecht gibt. Diese Vertreter begründen dies damit, dass die österreichische Bundesverfassung nur die Entstehung von Recht durch Gesetz regle und diese Regelung erschöpfend sein, so dass – wie auch die Ableitung aus der Grundnorm scheitere – für Gewohnheitsrecht kein Raum bleibe. Die überwiegende Meinung in Österreich vertritt, dass die Bundesverfassung zwar nur die Entstehung von Recht durch bewusste Rechtsetzung ausdrücklich behandelt, ihr Schweigen zur Frage des Gewohnheitsrechts aber nicht als dessen völlige Ablehnung zu deuten ist. Ebenso spricht § 10 ABGB nicht gegen die Geltung von Gewohnheitsrecht, sondern engt nur dessen Anwendungsbereich ein.
Siehe auch: Ersitzung
Quellen
https://de.wikipedia.org/wiki/Gewohnheitsrecht, abgerufen am 03.12.2018
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