Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, kurz EU-Grundrechtecharta oder Grundrechtecharta (häufige Abkürzungen: GRC und GRCh), kodifiziert Grundrechte und Menschenrechte im Rahmen der Europäischen Union. Mit der Charta sind die Grundrechte in der Europäischen Union erstmals umfassend schriftlich niedergelegt. Sie orientiert sich an der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Europäischen Sozialcharta, den mitgliedstaatlichen Verfassungen und internationalen Menschenrechtsdokumenten, aber auch an der Rechtsprechung der europäischen Gerichtshöfe.
Die Charta gilt aufgrund des EU-Vertrages für alle Staaten der Europäischen Union außer Polen. Sie ist für die EU und ihre Organe bindend; für die Mitgliedsstaaten ist sie dies ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union.
Die Charta wurde ursprünglich vom ersten europäischen Konvent unter dem Vorsitz von Roman Herzog erarbeitet und u. a. vom Europäischen Parlament und vom Rat der Europäischen Union gebilligt. Zur Eröffnung der Regierungskonferenz von Nizza am 7. Dezember 2000 wurde sie erstmals feierlich proklamiert. Die Grundrechtecharta sollte dann am 1. November 2006 als Teil des Europäischen Verfassungsvertrages in Kraft treten, der jedoch scheiterte. Rechtskraft erlangte sie daher erst am 1. Dezember 2009, gemeinsam mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon. Damit wurde sie für alle Mitgliedstaaten bindend (Artikel 6 EU-Vertrag), ausgenommen Polen und das Vereinigte Königreich (Protokoll Nr. 30, siehe Opt-out). 2009 sagte der Europäische Rat Tschechien zu, das Opt-out durch ein Zusatzprotokoll auf Tschechien auszudehnen. Im Februar 2014 verzichtete jedoch die tschechische Regierung auf das Opt-out.
Ziele, Inhalt und Bindungswirkung der Charta
Die Charta enthält die auf Ebene der Union geltenden bzw. unionalen Grundrechte, die bisher nur durch einen allgemeinen Verweis auf die Europäische Menschenrechtskonvention und auf die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union im Vertrag genannt wurden (Artikel 6 Abs. 3 des EU-Vertrags). Mit ihrer „Sichtbarmachung“ in der Charta sollen die Grundrechte für den Einzelnen transparenter werden. Zugleich sollen Identität und Legitimität der Europäischen Union – als Wertegemeinschaft – gestärkt werden.
In sechs Titeln (Würde des Menschen, Freiheit, Gleichheit, Solidarität, Bürgerrechte und justizielle Rechte) fasst die Charta die allgemeinen Menschen- und Bürgerrechte und die wirtschaftlichen und sozialen Rechte in einem Dokument zusammen. Die Charta enthält einige wesentliche Grundsätze, an die sich vor allem der europäische Gesetzgeber zu halten hat.
Ein weiterer, abschließender Titel (Titel VII) regelt die so genannten horizontalen Fragen. Dieser Titel enthält diejenigen Regeln, die querschnittsartig für sämtliche Grundrechte gelten (Adressaten der Grundrechte, Grundrechtsschranken, Verhältnis zu anderen Grundrechtsgewährleistungen, insbesondere zur Europäischen Menschenrechtskonvention, Missbrauchsverbot).
Einige Abschnitte der Charta sind nicht eindeutig formuliert; so ist z. B. in Artikel 6 das Recht jeder Person „auf Freiheit und Sicherheit“ festgeschrieben, wobei unbestimmt bleibt, wie etwa individuelle Freiheit gegenüber kollektiver Sicherheit zu gewichten ist. Zur sachgerechten Auslegung der Charta ist daher die Kenntnis der Diskussionen im Grundrechtekonvent unerlässlich.
In 50 Artikeln werden umfassende Rechte anerkannt, für deren Durchsetzung nicht nur der Europäische Gerichtshof in Luxemburg, sondern vorab sämtliche nationalen Richter – gewissermaßen als Unionsrichter – zuständig sind. In Artikel 1 der Charta heißt es wie in Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Doch geht die Charta bei der Gewährung von Abwehr- und Schutzrechten teilweise weit über das deutsche Grundgesetz hinaus; sie sichert neben den klassischen Bürgerrechten wie Rede-, Meinungs- oder Versammlungsfreiheit auch den Verbraucherschutz, die Unverletzlichkeit der Wohnung, das Telekommunikationsgeheimnis, den Datenschutz, ein „Recht auf eine gute Verwaltung“ und weitgehende Rechte von Kindern, von Menschen mit Behinderung und von älteren Menschen. Insbesondere wurden zahlreiche soziale Rechte in die Charta aufgenommen, während das deutsche Grundgesetz hierzu schweigt. So sind unter anderem „würdige Arbeitsbedingungen“ und eine kostenlose Arbeitsvermittlung garantiert. Zudem ist die Charta von der Antidiskriminierung durchdrungen. In Artikel 21 sind mehr unzulässige Gründe für Diskriminierung aufgelistet als in Art. 19 AEU-Vertrag (ehemals Art. 13 EG-Vertrag), der bisher Grundlage der nationalen Antidiskriminierungsgesetze war. Wörtlich heißt es:
„Diskriminierungen insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung, sind verboten.“
Einige fundamentale Rechte gelten absolut und einschränkungslos, so die Menschenwürde in Art. 1, das Folterverbot in Art. 4 oder das Sklavereiverbot in Art. 5. In diese Rechte dürfen Union und Mitgliedstaaten nicht eingreifen, und jede Relativierung – etwa beim Folterverbot – verbietet sich. Die anderen, nicht absoluten Rechte können hingegen eingeschränkt werden, wobei kein Grundrecht „leerlaufen“ darf. Zwar enthalten die einzelnen Grundrechte der Charta bis auf wenige Ausnahmen keine spezifischen Schranken. Eine allgemeine Schrankenklausel findet sich jedoch in Art. 52 Abs. 1, wonach jede Einschränkung gesetzlich vorgesehen sein und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sowie den Wesensgehalt der Rechte achten muss. Soweit Chartarechte der Europäischen Menschenrechtskonvention entstammen, gelten die dort aufgeführten spezifischen Schrankenbestimmungen, und soweit Rechte dem europäischen Vertragswerk entnommen wurden, wie vor allem die Bürgerrechte, die darin bereits enthaltenen Schrankenklauseln.
In der Praxis ist vor allem die Frage wichtig, für wen die Charta gilt bzw. in welchen Situationen der Bürger sich auf die Chartarechte berufen kann. Diese Frage klärt Art. 51. Danach bindet die Grundrechtecharta zum einen sämtliche Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union. Das gesamte Handeln der Union muss sich mithin am Maßstab der Charta messen lassen, insbesondere die europäische Gesetzgebung (per Verordnungen und Richtlinien) und die europäische Verwaltung.
Zum anderen bindet die Charta aber auch die Mitgliedstaaten, soweit diese Unionsrecht durchführen, indem sie etwa europäische Richtlinien in nationales Recht umsetzen oder – durch ihre nationalen Verwaltungen – europäische Verordnungen ausführen.
Keine Anwendung findet die Charta somit auf rein nationale Sachverhalte. Hier sind weiterhin die mitgliedstaatlichen Grundrechte alleiniger Prüfungsmaßstab. Die meisten Anfragen bei der Europäischen Kommission betreffen derartige Sachverhalte, für die weder Kommission noch Europäischer Gerichtshof zuständig sind. Als grobe Faustregel kann gelten, dass die Charta nur dann anwendbar ist, wenn es einen europäischen Bezug gibt.
Dies sieht der EuGH und in der Folge auch das Bundesarbeitsgericht anders: Unter Berufung auf Art. 31 entschied der EuGH, dass die regelmäßige Verjährungsfrist des BGB auf Urlaubsansprüche nach dem BUrlG keine Anwendung findet, wenn der Arbeitgeber seiner Hinweis- und Aufforderungsobliegenheit nicht nachgekommen ist. Darin folgte ihm das Bundesarbeitsgericht.
Quellen
- Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 8. April 2014. In den verbundenen Rechtssachen C‑293/12 und C‑594/12 (InfoCuria, Datenbank des Gerichtshofs).
- Reinhard Priebe: „Reform der Vorratsdatenspeicherung – strenge Maßstäbe des EuGH“. In: EuZW 2014, S. 456–459.
- Verfassungsrichter heben EU-Grundrechte in den Verfassungsrang, Wiener Zeitung 4. Mai 2012, abgerufen 6. Mai 2012.
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