Unter Talion, alternativ ius talionis oder Talionsprinzip, versteht man eine Rechtsfigur, nach der zwischen dem Schaden, der einem Opfer zugefügt wurde, und dem Schaden, der dem Täter zugefügt werden soll, ein Gleichgewicht angestrebt wird. Der Ausdruck ius talionis setzt sich zusammen aus lateinisch ius ‚Recht‘ und talio (Etymologie unklar) ‚Eintreiben eines gleichartigen Ausgleichs‘. Der nicht nur biblische Ausdruck „Auge für Auge“ ist davon ein Spezialfall, in dem dieses Gleichgewicht nach einer Körperverletzung durch Zufügen eines gleichartigen Schadens hergestellt werden soll. Davon ist die Spiegelstrafe zu unterscheiden, die neben der Gleichartigkeit des Schadens, den der Täter erleidet, auch eine Anknüpfung an Organe, mit denen die Tat begangen wurde, vornimmt, z. B. das Abhauen der Diebeshand. Die Talion ist ein Unterfall der Vergeltung, die auch solche Schädigungen eines Täters umfasst, die über die Talion hinausgehen, und ist zur Zeit der Privatstrafe, bei der die Bestrafung des Täters dem Opfer zugesprochen wurde, vom Schadensersatz kaum zu unterscheiden.
Älteste Belege
Als ältester Beleg für die Verschriftlichung des ius talionis gilt der Codex Ur-Nammu, eine Sammlung von Rechtssätzen des Königs [r-Nammu (2112–2095 v. Chr.). Der erste Rechtssatz lautet:
- Wenn ein Mann einen Mord begangen hat, soll besagter Mann getötet werden.
Im Übrigen ist es schwierig, bei inkommensurablen Verhältnissen zwischen Schaden und Strafe zu beurteilen, ob es sich um ein Talion handeln soll, oder ob auch eine besondere Präventionsabsicht hinter der Strafe steht, die zu einer das Talion überschießenden Strafe führt. So heißt es in den §§ 3, 4:
- Wenn ein Bürger vor Gericht zu falschem Zeugnis auftritt und seine Aussage nicht beweist, so wird, wenn dieses Gericht ein Halsgericht ist, dieser Bürger getötet. Wenn er zu einem Zeugnis über Getreide oder Geld auftritt, muss er die jeweilige Strafe dieses Prozesses tragen.
Hier hat das Opfer noch keinen Schaden erlitten, er drohte ihm nur, gleichwohl ist der Gedanke des Gleichgewichts unverkennbar.
Ein altrömisches Gesetz (leges regiae) aus der Königszeit ließ es anfänglich noch zu, dass der an einem freien Menschen vorsätzlich begangene Mord (parricidium) durch die Angehörigen des betroffenen Familienverbandes (gens) mit der Blutrache gerächt werden konnte. Um einer ausufernden Sippenfehde entgegenzusteuern, durfte der Mörder nur dann ohne vorangegangenes Gerichtsverfahren getötet werden, wenn die Täterschaft als zweifelsfrei erwiesen galt. Der Bluträcher, der diesem einschränkenden Grundsatz zuwiderhandelte wurde selbst alsparricidas (Mörder) angesehen.
Gesellschaftliche Bedingungen
Das ius talionis setzt voraus, dass in einer Gesellschaft zu ahndende Taten als Konflikte zwischen Menschen angesehen werden, die durch einen Ausgleich behoben werden können. Bei kultischen Vergehen hat dieses Institut daher keinen Sinn. Daher kann man davon ausgehen, dass ein ius talionis dort keinen Raum hat, wo eine Gewichtsbestimmung einer Untat aus religiösen Gründen keinen Platz hat. So gibt es akephale Gesellschaften Afrikas, bei denen die Untaten Beleidigungen der Erde und der Ahnen darstellen, die ihrerseits über den Täter die Übel bringen. Die Maßnahmen des Clans haben dagegen nicht den Zweck, irgendeiner Gleichwertigkeit der Buße mit der Tat zu verwirklichen, sondern den Zorn der Erde und der Ahnen abzuwenden. Auch dann, wenn das Recht nicht dem Frieden innerhalb der Gesellschaft sondern der Durchsetzung eines Staatszieles dient, hat eine solche Gewichtung keine Funktion. Daher gab es im Alten, Mittleren und Neuen Reich Ägyptens keine Anzeichen für die Anwendung eines ius talionis. Im Alten und Mittleren Reich diente das Recht der Durchsetzung eines Staatszieles, im Neuen Reich war dem Recht der unerforschliche Ratschluss der Götter übergeordnet.
Eine weitere Bedingung ist, dass es sich bei den Vergehen nur um vorsätzliche Taten oder es sich um reines Erfolgsstrafrecht handelt. Aber in den überlieferten Rechtsvorstellungen ist eine Milderung für nichtvorsätzliche Taten die Regel, soweit es sich nicht um reinen Schadensersatz handelt, was nicht immer zu trennen ist. So bestimmt die römische Zwölftafelgesetzgebung, dass die nicht vorsätzliche Tötung eines Menschen (Si telum manu fugit magis quam iecit, arietem subicito) mit einer Sachleistung gesühnt wird. Der Widder oder Schafkopf sollte stellvertretend für den fahrlässig handelnden Verantwortlichen zum Gegenstand der Rache werden.
Gesetze
Neben den angeführten ältesten Belegen sind auch im europäischen Raum gesetzliche Regelungen überliefert, die dem Talionsgedanken Rechnung tragen.
Das um 451 v. Chr. datierte römische Zwölftafelgesetz regelte für den Fall einer schweren Körperverletzung, die den Verlust eines wichtigen Körpergliedes zur Folge hatte, der Täter mit einer gleichartigen körperlichen Vergeltung bestraft werden konnte, wenn kein sonstiger Opferausgleich hergestellt wurde (Si membrum rupsit, ni cum eo pacit, talio esto).
Weiter findet sich im Königsgesetz von 818/819 die Bestimmung, dass bei der Tötung eines Menschen in der Kirche aus Notwehr außer Bußzahlungen für die Besudelung der Kirche durch das Blut des Getöteten auch eine Buße durch die Geistlichen verhängt wurde, „die der Tat, die er beging, entspricht.“[7] In der Lex Frisionum wird für einen getöteten Knecht eine Buße „gemäß dem, wie er eingeschätzt wird, und sein Herr beschwöre mit seinem Eide, dass er diesen Preis gehabt habe“ angeordnet. Deutlich wird die Talion noch durch die Bestimmung, dass der Anstifter eines Totschlags, wenn der Täter gefasst wurde, keine Buße zu zahlen braucht, aber „die Fehde der Verwandten des getöteten Mannes“ zu dulden habe, „bis er, wie er kann ihre Freundschaft zurück erlangt“ hat.[8]
Beteiligte
Die Sippenverbundenheit der Menschen führte in frühen Kulturstufen dazu, dass sich nicht Täter und Opfer gegenüberstanden, sondern die Sippe des Täters und die Sippe des Opfers. Im Codex Hammurapi finden sich in §§ 210 und 230 dafür Beispiele. In § 209 heißt es:
- „Wenn ein Bürger eine Tochter eines Bürgers schlägt und dabei eine Fehlgeburt verursacht, so soll er zehn Scheqel Silber für die Leibesfrucht zahlen.“
§ 210 fährt dann fort:
- „Wenn diese Frau stirbt, soll man ihm eine Tochter töten.“
In § 229 ist entschieden:
- „Wenn ein Baumeister einem Bürger ein Haus baut, aber seine Arbeit nicht auf solide Weise ausführt, so dass das Haus, das er gebaut hat, einstürzt und er den Tod des Eigentümers des Hauses herbeiführt, so wird dieser Baumeister getötet.“
§ 230 fährt dann fort:
- „Wenn er den Tod eines Sohnes des Eigentümers des Hauses herbeiführt, so soll man einen Sohn des Baumeisters töten.“
Diese Grundanschauung der Sippenverbundenheit des Individuums ist auch im vorschriftlichen skandinavischen Recht nachweisbar. So schreibt der norwegische König Håkon Håkonsson (1217–1263) in der Einleitung zu seinem Frostathingslov:
- „Jedermann wird wissen, wie es ein großer und übler Missbrauch lange in diesem Lande gewesen ist, dass, wenn ein Mann getötet wird, da wollen die Verwandten des Erschlagenen sich den aus dem Geschlechte des Töters aussuchen [um ihn zu erschlagen], der der beste ist, obwohl er bei der Tötung weder Mitwisser war, noch sie wollte, noch dabei geholfen hat, und sie wollen sich nicht an dem rächen, der getötet hat, obgleich das möglich wäre. Und so hat der wertlose Mann Nutzen von seiner Schlechtigkeit und seinem Unheil, und der Schuldlose büßt seine Besonnenheit und männliche Trefflichkeit. Und so mancher hat auf diese Weise eine große Einbuße des Geschlechtes erlitten, und wir haben die besten unserer Leute im Lande verloren. Und deshalb bestimmen wir dieses als eine Sache ohne Zulassung einer Buße und mit Beschlagnahme des ganzen Vermögens bei jedem, der an einem anderen Rache nimmt als an dem, der tötet oder töten lässt.“
Diesen Grundsatz übernahm auch der norwegische König Magnus Håkonsson in seinem Landrecht, das die einzelnen Gaurechte ablöste:
- „Neidingswerk ist, wenn jemand sich an einem anderen rächt als dem Täter oder Anstifter.“
Schon im Gulathingslov gab es Sippenbußen und auch die Rechtsfigur der „Ringbußgemeinschaft“ und „Nasenbußgemeinschaft“ des altnorwegischen Rechts zeigt diese Eingebundenheit: Die Ringbußgemeinschaft war die Gruppe der nächsten Verwandten auf der Vaterseite und die Nasenbußgemeinschaft die auf der Mutterseite, die ebenfalls berechtigt waren, je nach Verwandtschaftsgrad, vom Täter Buße zu empfangen. Die Verwandtschaft des Täters war ebenfalls bußpflichtig: Im Frostathingslov heißt es:
- „Der Töter oder der Sohn des Töters soll büßen dem Sohn des Getöteten eine gewogene Ertog und dreizehn gewogene Öre im Hauptring. Der Vater des Töters dem Vater des Toten ebensoviel. Der Bruder des Töters soll büßen dem Bruder des Toten zehn gewogene Öre“ und so weiter bis hin zu den Vettersöhnen.
Die gleiche Erscheinung findet man im Älteren Westgötalag. Nach dem Uplandslag des Königs Birger von Schweden haftete die Hundertschaft, das heißt die Dorfgemeinschaft für die Totschlagsbuße, wenn man den Totschläger nicht feststellen konnte. Die gleiche Vorstellung findet man im mittelalterlichen Russland, wo die unterste Ebene der Dorfgemeinschaft, Werw genannt, für die Taten ihrer Mitglieder einzustehen hatte. In § 23 Codex Hammurapi haftet die Stadt und der Vorsteher für den Schaden, den ein Einwohner durch einen Raub erlitten hat, wenn der Räuber nicht gefasst wurde.
Auch der Koran scheint von dieser Einbindung zu wissen, wenn er in Sure 2:178 feststellt:
- „O ihr die ihr glaubt! Euch ist bei Totschlag Vergeltung vorgeschrieben: Ein Freier für einen Freien, ein Sklave für einen Sklaven und ein Weib für ein Weib!“
Allerdings betont auch der Koran, dass niemand „die Last eines anderen“ trägt (Sure 53:36-38).
Die Talion selbst
Wie bereits ausgeführt, ist es schwierig festzustellen, ob in einer Rechtsordnung Schaden und Strafe im Gleichgewicht stehen sollten. Deutlich wird das nur, wenn sich theoretische und programmatische Äußerungen rund um die Rechtsregel finden lassen, die belegen, dass man mit dem Schaden, den man dem Täter zudiktierte, tatsächlich ein Talion beabsichtigte.
Bei manchen Tatbeständen, insbesondere im Bereich des Sexualstrafrechts, ist nicht ein Gleichgewicht zwischen Schaden und Buße, sondern zwischen dem Grad gesellschaftlicher Missbilligung und Buße anzunehmen. So bestimmen die Gesetze Æthelberhts von Kent:
- „Wenn der König in jemandes Wohnung trinkt und jemand da etwas Unrechts begeht, büße er die doppelte Buße.“
Das Talion wurde nicht immer von einem Richter festgesetzt. Manchmal waren es „verständige Männer“:
- „Wenn jemand einen Mann an der Nase verwundet, soll ein Entstellungsgeld entrichtet werden, und so überall, wo nicht Haar oder Kleidung den Schaden verhüllt. Und das Entstellungsgeld soll so viel betragen, als unparteiische Männer schätzen.“
Zitierte Literatur
- Franz Beyerle (Hrsg.): Die Gesetze der Langobarden (= Germanenrechte. Bd. 3, ZDB 1029124-6). Böhlau, Weimar 1947.
- Franz Beyerle (Hrsg.): Gesetze der Burgunden (= Germanenrechte. Bd. 10). Böhlau, Weimar 1936.
- Karl August Eckhardt: Die Gesetze des Karolingerreiches. 714–911. Band 1: Salische und ribuarische Franken. (= Germanenrechte. Bd. 2, 1). Böhlau, Weimar 1934.
- Andreas Heusler: Isländisches Recht. Die Graugans (= Germanenrechte. Bd. 9). Böhlau, Weimar 1937 (hier „Grágás“);
- Wolfgang Helck: Wesen, Entstehung und Entwicklung altägyptischen „Rechts“. In: Wolfgang Fikentscher, Herbert Franke, Oskar Köhler (Hrsg.): Entstehung und Wandel rechtlicher Traditionen (= Veröffentlichungen des Instituts für Historische Anthropologie e.V. Bd. 2). Alber, Freiburg (Breisgau) 1980, ISBN 3-495-47423-4, S. 303–324.
- Max Kaser: Das Römische Privatrecht.2. Auflage. C.H. Beck, München/ Würzburg 1971, ISBN 3-406-01406-2, § 39, S. 147–148, § 41, S. 155–157.
- Wolfgang Kunkel, Martin Schermaier: Römische Rechtsgeschichte. 13. Auflage, Böhlau, Köln u. a. 2001, ISBN 978-3-8252-2225-3, S. 34, 43.
- Rudolf Meißner (Übersetzer): Norwegisches Recht. Das Rechtsbuch des Frostothings(= Germanenrechte. Bd. 4). Böhlau, Weimar 1939.
- Rudolf Meißner (Übersetzer): Norwegisches Recht. Das Rechtsbuch des Gulathings (= Germanenrechte. Bd. 6). Böhlau, Weimar 1935.
- Rudolf Meißner (Übersetzer): Landrecht des Königs Magnus Hakonarson (= Germanenrechte. Nordgermanisches Recht. NF Bd. 2, ZDB 634842-7). Böhlau, Weimar 1941.
- Felix Niedner (Übersetzer): Die Geschichte vom Skalden Egil (= Thule.Bd. 3, ZDB|516164-2). Diederichs, Düsseldorf u. a. 1963.
- Eckart Otto: Die Geschichte der Talion.In: Eckart Otto: Kontinuum und Proprium. Studien zur Sozial- und Rechtsgeschichte des Alten Orients und des Alten Testaments; Wiesbaden 1996, S. 224–245.
- Reinhold Schmid (Hrsg.): Die Gesetze der Angelsachsen. In der Ursprache mit Übersetzung, Erläuterungen und einem antiquarischen Glossar. 2., völlig umgearbeitete und vermehrte Auflage. Brockhaus, Leipzig 1858.
- Rüdiger Schott: Afrikanische Rechtstraditionen der Bulsa in Nord-Ghana. In: Wolfgang Fikentscher, Herbert Franke, Oskar Köhler (Hrsg.): Entstehung und Wandel rechtlicher Traditionen (= Veröffentlichungen des Instituts für Historische Anthropologie e.V. Bd. 2). Alber, Freiburg (Breisgau) 1980, ISBN 3-495-47423-4, S. 265–301.
- Claudius von Schwerin: Schwedische Rechte. Älteres Westgötalag, Uplandslag(= Germanenrechte. Bd. 7). Böhlau, Weimar 1935.
Fußnoten
- Oxford Latin Dictionaryzum Stichwort: „exaction of compensation in kind“.
- leges regiae: qui hominem liberum dolo sciens morti duit, parricidas esto.
- Schott, S. 275
- Helck, S. 316, 323 ff.
- XII tab. 8,24: Wenn die Waffe mehr der Hand entflohen ist, als dass jemand sie geworfen hat, so soll der Werfer einen Widder als Strafe zahlen.
- XII tab. 8,2: Wenn jemand einem anderen ein Glied verletzt hat und sich nicht mit ihm einigt, soll Gleiches mit Gleichem vergolten werden.
- Eckhardt S. 113.
- Eckhardt III. S. 67.
- Landrecht Titel IV Nr. 4.
- Im 6. Kapitel über die Mannheiligkeit.
- Kap. 6 des Frostathingslov.
- Kap. 6 Nr. 41
- von Schwerin, S. 13
- von Schwerin, Upplandslag Nr. 8.
- Aethelbirht‘s Gesetze, Kap. 1 Nr. 3 = Schmid S. 3.
- Frostathingslov IV Nr. 45.
Quellen
http://de.wikipedia.org/wiki/Talion08.11.2014
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